Niedergeschrieben und an tate.at geschickt von Beate. DANKE!
Ich bin Jahrgang 1966. Während meines ersten Lebensjahres schlief ich laut meiner Mutter 20 von 24 Stunden. Selbst zu den Mahlzeiten musste sie mich wecken. Jedoch kann ich mich noch genau daran erinnern, was ich sah, wenn ich wach in meinem Gitterbettchen lag. Meinen Eltern, die mir das nicht glauben wollten, beschrieb ich einmal den Raum: Tapete, Deckenlampe, das Mobile daran, Fenster und Tür – es stimmte alles. Motorisch entwickelte ich mich langsam. Mit elf Monaten konnte ich erst sitzen, auch im Laufen war ich hintendran. Auch sprach ich anfangs so gut wie gar nichts. Dafür habe ich dann mit zwei Jahren zu sprechen angefangen, und zwar in ganzen Sätzen. Mit zweieinhalb fiel ich einmal die Kellertreppe herunter und landete mit einem lauten Bums vor der Kellertür. Meiner erschrocken herbeigelaufenen Mutter sagte ich: “Was regst du dich so auf, es ist doch nichts passiert?” Was sie dann mehr schockte als der Sturz. Ich liebte es, mich stundenlang alleine zu beschäftigen, mit Bauklötzen, Lego (Duplo gab es damals noch nicht), Puzzles. Mit gleichaltrigen Kindern hatte ich nicht gern Umgang. Ich bevorzugte die Gegenwart größerer Kinder oder Erwachsener. Die tolerierten mich auch, solange ich noch recht klein war, ab dem Kindergartenalter ging ihnen dieses anhängliche kleine Mädchen eher auf die Nerven.
Von meinem dritten bis fünften Lebensjahr wohnten wir in Frankreich. Mit vier Jahren kam ich in die Maternelle der Ecole allemande Paris, zu meinem großen Verdruss, da ich sehr kontaktscheu war. Die französisch sprechenden Erzieherinnen verstand ich nicht, was mir Angst einflößte, umso mehr, als andere Kinder dieses Problem nicht zu haben schienen. Da Mangel an Erzieherinnen, gleich ob deutsch oder französisch sprechend, herrschte, wurden wir öfters auf die anderen zwei Gruppen aufgeteilt: entweder die Kleinkinder und noch fast Säuglinge – hier langweilte ich mich zu Tode, blieb aber vor dem Spott der anderen Kinder verschont – oder die Kinder im Vorschulalter, die sich regelmäßig über meine Schüchternheit lustig machten. Dabei muss man sagen, dass schon damals galt. “Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust”. War ich allein mit einem Kind, zu dem ich Vertrauen gefasst hatte, wurde ich sehr lebhaft und bald hochnäsig, weil ich immer mehr wusste als es. Ich wollte dann entweder immer bestimmen, was es tun sollte oder ihm “etwas beibringen”, was die Kinder aber selten wollten, sodass ich immer eher isoliert blieb.
Eines der Spielsachen, die ich mit drei Jahren bekommen hatte, war ein großer Würfel mit Öffnungen in verschiedenen Formen, durch die ebenso geformte, dreidimensionale Plastikteile (Dreiecke, Zylinder) zu schieben waren. Den Zylinder schob ich auch durch die viereckige oder eine sternförmige Öffnung. Auf die Bemerkung einer beobachtenden Freundin meine Mutter, wie dumm ich doch sei, erwiderte ich: “Warum soll ich die Teile immer nur durch dieselbe Öffnung stecken, wenn sie von ihren Maßen auch durch andere passen?” Überhaupt waren meine Antworten oft viel zu direkt und logisch für eine Kindergartenkind. Zurück in Deutschland, 1971, beschwerte sich eine Kundin, die neben meiner Mutter an der Theke stand, darüber, dass ich mich nicht für ein Bobon bedankte, das mir die Verkäuferin gegeben hatte. Da mir die Dame das Bonbon aufgedrängt hatte, sagte ich selbstbewusst zu der Kundin: “Ich habe das Bonbon nicht gewünscht und es nur genommen, damit ich Ruhe habe. Warum soll ich mich für etwas bedanken, was ich nicht verlangt habe?” Wie man sieht, waren Takt und soziales Feingefühl nicht gerade meine Stärke.
Da ich in Deutschland keinen Kindergarten besucht hatte, kam ich in die Vorschule des Deutsch-Französischen Gymnasiums in Saarbrücken. Dort fühlte ich mich nicht sehr wohl, weil mir manche Kinder zu gewaltbereit waren. Ich hielt mich eng an die (meist französisch sprechenden) Erzieherinnen. Wir erhielten Aufgabenblätter mit Aufgaben zu Geometrie und Begriffserkennung, deren Anweisungen alle in Französisch geschrieben waren – seltsamerweise verstand ich die alle. Auf meinen fertig gelösten Aufgabenblättern prangte stets ein “tb” – très bien (sehr gut). Einmal, ich weiß gar nicht mehr, ob ich etwas bastelte oder malte, riss mir eine der Erzieherinnen meine Arbeit aus den Händen und lief damit zu all ihren Kolleginnen, um sie diesen Geniestreich bewundern zu lassen.
Da ich in Kindergarten und Vorschule stets schlecht integriert und nicht gern hingegangen war, befürchteten meine Eltern das Schlimmste für die Grundschule. Doch in die ging ich gern. Meine Mutter fragte meine Lehrerin einmal, ob sie denn mit mir zurecht käme, so ein nervtötender Unband wie ich sei. Daraufhin sah meine Lehrerin sie erstaunt an und meinte: “Sie sprechen wohl von einem anderen Kind.” In der Schule saß ich aufmerksam auf meinem Platz und folgte begierig dem Unterricht. Endlich gab es wirklich was zu lernen! Doch die Welt der Bücher, in die einzutauchen ich seit Jahren brannte, blieb mir zunächst noch verschlossen, denn wir lernten erst Schreibschrift. Zwar kauften mir meine Eltern auch mal Bücher in Schreibschrift, aber die hatte ich immer schnell ausgelesen. Ich begriff, dass die meisten Bücher dieser Welt eben in Druckschrift verfasst sind. Frustriert begann ich dann eben, selbst Geschichten und Gedichte zu schreiben. Als ich dann endlich Druckbuchstaben konnte, las ich als erstes das Lesebuch für den Deutschunterricht ganz durch. Auch setzte ich mich mit Vorliebe nach den Hausaufgaben in das Arbeitszimmer meines Vaters und las seine Bücher, z. B. über Weltgeschichte. Meine Eltern glaubten eher, ich höre Schallplatten oder sehe mir die Bildbände an. Meine Mutter kaufte mir dann eines Tages ein Buch für Mädchen ab 12 Jahren. Freudestrahlend erzählte ich ihr am Ende des Nachmittags, dass ich das Buch bereits ausgelesen hätte. Daraufhin bezichtigte sie mich der Lüge und sagte, sie habe zwar vorgehabt, mir jeden Monat ein Buch zu kaufen, würde es aber nun nicht tun, da ich dieses Geschenk nicht zu schätzen wisse. Ich war sehr frustriert und zog mich, wie so oft, in meine Fantasiewelt zurück. Von da an war ich auch vorsichtiger, Erwachsenen gegenüber mein Wissen oder Fähigkeiten zu zeigen – sie nahmen mich nicht für voll.
Bei den Klassenarbeiten war ich immer als Erste fertig und langweilte mich dann sehr. Meine Lehrerin riet mir dann, die Zeit zu nutzen, indem ich doch noch mal alles auf Fehler durchsah. Aber ich machte ja keine Fehler… So zog ich es vor, vor mich hinzuträumen oder heimlich schon die Hausaufgaben zu machen, damit ich am Nachmittag ungestört spielen konnte.
In Rechnen war ich stets die Beste, hatte aber ein Problem. Heute weiß ich, dass ich an Dyskalkulie leide, das ist beim Rechnen das, was Legasthenie beim Schreiben ist. Ich rechnete zwar immer alles ohne Fehler, brauchte aber viel Zeit und es kostete mich große Mühe, mich zu konzentrieren. Zu der Zeit wurde die Mengenlehre in die Grundschule eingeführt, da man dachte, durch Rechnen in nicht nur Dezimal-, sondern vor allem Binärsystemen würden die Kinder leicht an Computer herangeführt. Viele Eltern hatte ihre liebe Mühe dabei, ihren Kindern bei der Mengenlehre zu helfen. Ich jedoch hatte keine Probleme und wurde von der Lehrerin beauftragt, es anderen Kindern zu erklären.
Gegen Mitte der vierten Klasse wurden im ganzen Bundesland an allen Schulen Intelligenztests durchgeführt. Von 100 möglichen Punkten erhielt ich 98. Besonders im sprachlichen Bereich war ich überdurchschnittlich. Insgesamt hatte ich das beste Ergebnis der ganzen Grundschule.
Zum Ende der Grundschulzeit ging ich mehr als vier Wochen früher von der Schule ab, da ich aufgrund meiner schlechten Gesundheit (Kind von zwei Kettenrauchern) zur Kur an die Nordsee musste. Kurz nach meiner Rückkehr zogen wir in ein anderes Bundesland, wo ich aufs Gymnasium kommen sollte. Da ich keinen Aufnahmetests gemacht hatte, wollte der Schulleiter mich zunächst nicht akzeptieren, doch als mein Vater ihm meine Zeugnisse zeigte, war das kein Thema mehr.
Auf dem Gymnasium war dann meine Langsamkeit beim Rechnen ein Problem, da ich immer noch alles richtig rechnete, aber zu viel Zeit brauchte und Arbeiten daher oft nur unvollständig gelöst abgab – mit entsprechend schlechter Note. In der fünften Klasse hatte ich eine Lehrerin, die dann auch mal kürzere Tests schreiben ließ, damit ich eine Chance hatte. Diese bekam ich alle mit der Bestnote zurück. Später hatte ich zunächst Schwierigkeiten mit dem Bruchrechnen, zumal bei einem Lehrer, der Stoff einfach nicht didaktisch gut vermitteln konnte (wie auch viele Eltern beklagten, deren Kinder in Mathe abrutschten). Er gab dann, ohne mit mir gesprochen zu haben, meinen Eltern ein Lehrbuch über Bruchrechnen auch mit mehrstelligen Zahlen, das stufenweise aufgebaut war, und dessen Lösungen nie auf den Folgeseiten standen, sondern auf Buchseiten, durch die man erst durchs Rechnen kam. Ich solle das durcharbeiten, das würde ich schon schaffen. Ich las das Buch in einem Abend und darauffolgenden Nachmittag, war fasziniert von Bruchrechnen und fragte mich, wie ich ein so einfaches Thema nicht vorher hatte begreifen können.
Leider rutschen meine Schulleistungen in der Pubertät ab, zum einen. Weil ich doch Wissenslücken hatte durch den Besuch der Grundschule in einem anderen Bundesland und die Versäumnisse durch Krankheiten und Kuraufenthalt, aber nicht zuletzt auch wegen des schlechten Einflusses einer “besten” Freundin, die dann – für mich zum Glück – sitzen blieb. Da sie zweimal hintereinander sitzen blieb, verließ sie dann auch das Gymnasium. Da ich in Latein, worin ich zunächst als Beste angefangen hatte, aufgrund mangelnden Interesses an dieser toten Sprache auf die Note 5 gekommen war, prophezeite man mir große Schwierigkeiten für das im nächsten Schuljahr beginnende Französisch. Ich langweilte mich in den großen Ferien und fand beim Stöbern im Bücherschrank meines Vaters das Lehrbuch, mit dem er in Frankreich von der Firma aus bei der Alliance Française die Sprache gelernt hatte. So begann ich, mir selbst Französisch beizubringen, was zum einen zur Folge hatte, das ich bis zum Abitur nur Bestnoten in Französisch nach Hause brachte, zum anderen jedoch, dass ich mich die ersten Monate nach den Ferien in diesem Fach in der Schule sehr langweilte.
Das Gymnasium schloss ich dann mit einer guten Note ab (an der Eins bin ich knapp vorbeigesegelt, ich hätte in meinem mündlichen Prüfungsfach Religion mehr schwafeln sollen), studierte Diplom-Übersetzerin mit Sachfach Technik, bekam bei der Endprüfung in Maschinenbau eine Eins und erwägte nach dem Vordiplom, doch lieber Elektrotechnik statt Sprachen zu studieren (was ich wieder verwarf), schrieb in der Diplomprüfung die besten Fachübersetzungen des ganzen Instituts und trat dann weltfremd und kaum für das wirkliche Leben ausgerüstet in den Berufsmarkt ein, wo die Chancen für Übersetzer sehr schlecht stehen (aufgrund Firmenpolitiken, nicht geschützter Berufsbezeichnung etc.). Zum Glück fand ich bald an einer Universität eine Stelle als Fremdsprachesekretärin, die ich auch heute noch inne habe.
Ein einmal flüchtig und lustlos durchgeführter IQ-Test ergab 126, ein konzentriert durchgeführter dreistündiger Test zu verschiedenen Gebieten ergab 135.
Zu meiner Kindheit gab es noch nicht die Beschäftigung mit Hochbegabung und deren Förderung. Sie war auch bei mir nicht erkannt worden. Ich galt bei meinen Lehrern als das lästige Kind, dass sich anbiedern wollte (weil ich oft nach dem Unterricht noch Fragen stellte oder Aufgaben von mir vorzeigte, für die ich gelobt werden wollte) und bei meinen Mitschülern als die Klugscheißerin und Angeberin, die andere nur belehren wollte. Einige Erlebnisse, wie Sandra sie in dieser Rubrik beschreibt, sind mir nicht fremd! Zum Glück war ich recht wortgewandt und konnte mich dann später mit sarkastischen Bemerkungen, auf die man keine Entgegnung fand, verteidigen und einen gewissen Sicherheitsabstand schaffen – beliebt machte ich mich natürlich nicht. Für die wenigen wirklich guten Freunde, die ich gefunden habe (oft auch mit rascher Auffassungsgabe und Lerninteresse) und die mich so akzeptierten, wie ich bin, bin ich sehr dankbar. Ich frage mich manchmal, was aus mir hätte werden können, wenn ich richtig und frühzeitig gefördert worden wäre. Meine Grundschullehrerein und meine Eltern freuten sich zwar einerseits über das aufgeweckte Kind, störten sich andererseits aber an meinem krankhaften Ehrgeiz und Perfektionismus, da sie eben das Problem der Unterforderung nicht erkannten. Wäre ich bei richtiger Förderung noch eingebildeter und ehrgeiziger geworden?
Liebe Eltern und Lehrer, bemüht Euch, dass das Kind gefördert wird. Nicht alle Kinder ziehen sich bei Unterforderung in ihre Fantasiewelt zurück und versuchen, sich selbst Anregung zu schaffen, wie ich es tat. Aber auch ohne Förderung kann natürlich was Ordentliches aus uns werden.. 😉