Niedergeschrieben und an tate.at geschickt von Cassandra. DANKE!
Kindergarten.
Ich habe überhaupt keinen Spaß am Kindergarten. Mit den anderen kann man sich überhaupt nicht unterhalten, sie prügeln sich nur. Ich will einem anderen Mädchen ihre Lieblingsgeschichte vorlesen, weil die Erzieherin keine Zeit hat. Die Erzieherin lächelt. Sie findet es toll, dass wir “lesen spielen”. Dabei kann ich schon lesen. Ich hab die Geschichte nicht auswendig gelernt.
Aber die Geschichte ist so langweilig. Raben können doch nicht sprechen. Und außerdem gibt es doch gar keine “Raben”. In meinem Biologiebuch steht, dass es “Rabenkrähe” heißen muss. Auf Lateinisch heißt es “Corvus corone corone”.
Erste Klasse.
Was soll ich mit den Schulbüchern? Warum muss ich Schreiben, Lesen und Rechnen lernen?
Die Lehrerin freut sich, dass ich mich so gut in Biologie auskenne. Sie mag die Bilder, die ich male.
Wenn mir im Unterricht langweilig ist, darf ich malen. Und nach der Stunde schenke ich ihr dann die Bilder. Sie freut sich jedesmal so sehr.
Ich mag sie.
Zweite Klasse.
“Mir ist so langweilig” – das ist der Standardspruch, wenn ich nach Hause komme.
Ich will nicht lernen, wie man bis 100 rechnet. Ich weiß, wie man das Volumen einer Kugel ausrechnet. Gestern hab ich mir ausgerechnet, wie viele Packungen Milch man in die Weltkugel schütten könnte, wenn sie hohl wäre. Aber sie ist nicht hohl. Da drinnen ist Magma, heißes Gestein.
Manchmal fühle ich mich, als wäre auch in meinem Kopf Magma.
Auf dem Bücherregal liegen meine Schulbücher; Deutsch, Mathematik, Heimat-und-Sachkunde.
Manche fragen mich, ob ich mir das Zimmer mit meiner großen Schwester teile, aber ich hab doch gar keine große Schwester. Warum sollte ich denn keine Bücher haben?
Und Ornithologie ist doch spannend, oder?
Dritte Klasse.
Meine Lehrerin ist an eine andere Schule gekommen. Ich hab an jedem Tag in den Sommerferien an sie denken müssen. Ich habe so viel geweint. Ich weine immer noch – aber jetzt ist es nicht wegen meiner ehemaligen Lehrerin. Jetzt ist es wegen den anderen. Florian hat mich gestern auf dem Nachhauseweg in die Brennnesseln geworfen. Dabei habe ich ihm doch gar nichts getan! Und ich bin viel kleiner als Florian; dann ist das doch erst ungerecht!
Vierte Klasse.
Meine Lehrerin sagt, ich wäre unsozial. Dabei würde ich doch so gerne mit den anderen Monopoly spielen, aber sie tun so, als wäre ich gar nicht da. Wenn ich auch nach den Spielfiguren greife, dann schreien die anderen, ich soll nicht schummeln. Die Lehrerin schimpft mich dann.
Und wenn die anderen beim Malen den Wasserbecher über meine Bilder kippen, dann heißt es, ich soll sie nicht anrempeln.
Ich bin schon öfter als einmal heulend aus der Klasse gelaufen.
Gestern hat mich Johann verkloppt, weil ich schwarze Haare habe. “Du bist doof, weil du nicht blond bist!”
Dabei kann ich doch gar nichts dafür, dass ich dunkle Haare habe. Das hat etwas mit der Genetik zu tun.
Fünfte Klasse.
Die anderen haben sich letztes Jahr aufs Gymnasium gefreut. Ich bin auf die Hauptschule gekommen. “unsoziales Verhalten und unkontrollierte Wutausbrüche”. Da hilft auch kein Notendurchschnitt von 1,8.
Ich hasse die Schule. Ich sitze hier den ganzen Tag ab, niemand kann mich ausstehen.
Manchmal erkläre ich etwas in Biologie.
Wir haben jetzt auch Physikunterricht. Das macht mir Spaß.
Aber mir ist die Lust am Lernen vergangen.
Irgendwie schaffe ich trotzdem noch einen Notendurchschnitt von etwas besser als 2.
Die Schuluntersuchung hat ergeben, dass ich Skoliose habe. Das ist eine Wirbelsäulenverkrümmung; meine Wirbelsäule sieht auf dem Röntgenbild von der Seite gesehen wie ein C aus.
Ich muss drei mal pro Woche zur Krankengymnastik. Ich brauche nicht mehr in Sport mitmachen. Ich bin froh darum; in Sport hatte ich immer eine 4.
Sechste Klasse.
Die kleine Grund- und Teilhauptschule in unserem Dorf wurde verkleinert. Ich muss in die Hauptschule in der nächsten Ortschaft.
Die Schüler aus den höheren Klassen verprügeln mich.
Sie verspotten mich wegen meiner Krankheit. Ich muss wegen meiner Wirbelsäule ein orthopädisches Korsett tragen, und das sieht man. Spätestens bemerkt man es, wenn man mich anrempelt.
Gestern hat einer aus der 8. Klasse geschriehen “Ich bring dich um”.
Am meisten hasse ich die Zeit, wo ich im Bus bin. In dieser halben Stunde haben sie im überfüllten Schulbus ihren Spaß daran, mir Kaugummi in die langen Haare zu kleben oder mich mit Fäusten zu traktieren.
Und ich hasse den Weg von der Bushaltestelle zur Schule. Winter sind grausam. Letztens ist mein Brille zersplittert, als mir jemand einen großen Eisbrocken ins Gesicht geworfen hat. Ich bin hingefallen und habe mir das ganze Gesicht aufgeschürft. Alle haben gelacht. Und ich habe geweint.
Ich möchte mit einem Raumschiff fliegen, ganz nahe an der Grenze der Lichtgeschwindigkeit. Dann würde ich auf die Erde zurückkehren und alle, die mich hassen, wären längst gestorben.
Ich könnte ausrechnen, wie schnell ich dazu fliegen müsste.
Ich habe mir die Relativitätstheorie beigebracht.
Siebte Klasse.
Ich bin in der Realschule. Im Übertrittszeugnis von der Hauptschule stand etwas von “überdurchschnittlicher Begabung”. Ich habe nicht verstanden, was das heißt.
Ich fühle mich wie befreit. Niemand traktiert mich. Die Lehrer sind so nett. Mit einem von ihnen kann ich mich sogar über die Relativitätstheorie und über Quantenphysik unterhalten. Er versteht mich.
Meine Noten sind gut, aber mir ist so langweilig.
Ich habe die Schulbücher ausgelesen. Warum lernt man in Mathematik nichts über Fraktale Geometrie?
Achte Klasse.
Ich bin im Krankenhaus. Ich musste operiert werden. Meine Wirbelsäule war bis auf 50 Grad verkrümmt.
Ich liege auf der Intensivstation. Ich möchte lesen, aber ich kann meine Arme kaum heben. Es gibt da so ein Lesegestell, dass ich nach vielem Hin und Her endlich bekommen habe. Aber zum Umblättern muss ich das Buch jedesmal hochheben. Das strengt mich zu sehr an.
Ich fühle mich schrecklich.
Nach zwei Monaten komme ich aus dem Krankenhaus. Ich bin zu Hause, kann mich kaum bewegen.
Mir ist schrecklich langweilig. Ich habe Hausunterricht. Es war für meine Eltern mühsam, Hausunterricht genehmigt zu bekommen. Alle denken, ich schaffe es nicht. Nur mein Klassenlehrer glaubt an mich.
Ich schreibe Mathematikschulaufgaben, indem ich die Zahlen diktiere.
Die letzen vier Monate des Schuljahres bin ich wieder in der Schule. Mein Notendurchschnitt ist 1,56.
Ich mache einen IQ-Test. 145 auf einer Skala bis 150. Ich fühle mich irgendwie befreit.
Neunte Klasse.
Warum steht in meinem Physik-Schulbuch nichts über die Relativitätstheorie? Das wäre doch das Mindeste! Die anderen schimpfen, dass Optik und Eletrotechnik so schwierig sind.
Wenn ich nach Hause komme, lese ich Bücher über Stringtheorie, Calabi-Yau-Räume, multidimensionale Universen.
Manchmal gebe ich Mitschülern Nachhilfe. Ich versuche, so normal wie möglich zu wirken.
Ich mache in der Schülerzeitung mit. Ich schreibe Texte, ich bin Layouterin.
Ich soll mich für einen Beruf bewerben… Aber was? Ich würde gerne Physik studieren – theoretische Physik und Astronomie. Ich träume von Santa Barbara – nicht von einem Badeurlaub, sondern von der Universität. MIT, Cambridge, Oxford, CalTech. Ich schreibe Briefe. Kaum einer wird beantwortet. In den wenigen Antworten, die ich bekomme, finde ich Sätze wie “wenn Sie Abitur haben, können Sie sich gerne um ein Stipendium bewerben”.
Zehnte Klasse.
Abschlussklasse. Alles wird wieder und wieder wiederholt. Ich langweile mich. Ich will nicht Wurzelrechnen üben.
Ich habe keine Lust, immer wieder Aufsätze zum gleichen Thema zu schreiben.
Mein Klassenlehrer hat mich nach drei Monaten vom regulären Unterricht befreit; ich mache jetzt den ganzen Tag Layout und Grafik für die Schülerzeitung.
Ich habe einen Ausbildungsplatz gefunden. “Fachinformatiker”. In der nächsten Stadt, 40 Kilometer entfernt, werde ich ab nächstem Jahr eine Informatiker-Ausbildung machen dürfen. Obwohl ich kein Abitur habe. Danke, dass es sowas gibt.
Die Mittlere-Reife-Prüfungen stehen an. Ich gebe den anderen wieder Nachhilfe.
Eine Woche vor den Prüfungen schaue ich mir die Unterlagen noch mal an, damit ich überhaupt weiß, worum es geht.
IT ACADEMY.
“Wir haben den Lehrplan einer technischen Universität. Ihr werdet das gleiche lernen dürfen, wie wenn ihr an der TU München Informatik studieren würdet”. 12 Stunden Netzwerktechnik, Elektronik, Physik. 11 Stunden Programmierung. Zwei Programmiersprachen. Etwas BWL. Allgemeinbildende Fächer. Das Unterrichtstempo ist unglaublich.
Andere würden davonrennen. Wir machen das freiwillig. Ich bin das einzige Mädchen. Alle anderen sind älter als ich.
Ich fühle mich so gut. Es gibt also doch einen Platz für mich.
Ein Jahr an der IT ACADEMY ist vergangen.
Wenn ich keinen Unterricht habe, dann arbeite ich in einer großen Softwarefirma. Ich lerne sieben Programmiersprachen.
Ich habe gelernt zu lernen.
Ich bin aus meinem goldenen Käfig herausgekommen.
Ich habe meinen Platz gefunden.
Ich möchte mit niemandem tauschen.
Manchmal sitze ich den ganzen Abend am Schreibtisch, lerne C++.
Dann sehe ich hinauf zu den abertausenden Sternen.
Neben meinem Informatikbuch liegt ein Lehrbuch über Quantenelektrodynamik. Es macht mir Spaß.
Ja, ich kann mit den anderen sogar darüber reden. Meine Freunde sind älter als ich, aber wir haben eine Menge Spaß. Es kommt nicht selten vor, dass wir von uns beim Mittagessen in die verwirrendsten Diskussionen über Physik, Informatik oder Philosophie verstricken.
In zwei Jahren habe ich meinen Abschluss. “Fachinformatiker, Fachrichtung Anwendungsentwicklung.”
Und dann werde ich mein Abitur nachmachen.
Und studieren. Theoretische Physik, Astronomie und Mathematik.
Das ganze Leben liegt vor mir.