Willis Geschichte

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Niedergeschrieben und an tate.at geschickt von seiner Mutter Erika R. aus Rostock. DANKE!

Willi wurde im Februar 1996 geboren. Schon die Geburt war ungewöhnlich: Unser einziges Kind kam knapp drei Stunden nach dem Einsetzen der ersten Wehen zur Welt. Als sein Kopf heraussah, schrie er bereits kräftig. Die Hebamme war amüsiert, da es einige Kunstgriffe erforderte, den brüllenden, strampelnden Jungen endgültig zur Welt zu bringen.

Willi war vom ersten Tag an unruhig und schlief sehr wenig. Er war ein typisches Schreikind. Ruhe gab es erst, wenn er im Tragetuch war. Später wurde dies sein Lieblingsort. Munter schaute er in die Welt, während ich das Gefühl hatte, mit den Nerven fertig zu sein. Legte ich Ihn ab, ging das Schreien wieder los. Schlafen wollte er nur in meinem Beisein und in meinem Bett. Ich hatte alles probiert – Kinderbett neben dem Elternbett, Kinderwagen neben dem Bett, Wiege, Stubenwagen …

Schreien lassen? Er hielt zwei Stunden durch. Kommentar der Supereltern und Kinderärzte: Ich hätte ihn zum Tyrannen erzogen. Ein Kind schläft sich groß. Schreien stärkt die Lungen etc.. Geben sie mal Schlafmittel, Beruhigungsmittel …

Als er größer wurde, lag er am liebsten auf dem Bodengitter des Kinderwagens, mit dem Bauch nach unten. Er wollte immer den Boden beim Fahren betrachten. Nicht selten erntete ich dafür Kopfschütteln (“Wie kann man nur …”). Setzte ich ihn normal in den Sportwagen – Gebrüll. Die Finger zeigten sofort nach unten.

Die Phase des ständigen Schreiens war nach etwa neun Monaten vorbei, als er laufen lernte. Von da an ging es zügig weiter. Die Kinderärztin verzeichnete eine übermäßig schnelle motorische Entwicklung.

Mit einem Jahr gab ich in in die Krippe, um wieder zu arbeiten. Auch dort – Schreikind, sobald er abgelegt wurde. Sobald die Erzieherinnen aber ihn beschäftigten und ihm Bücher vorlasen, kuschelte er sich an und gab Ruhe. Mittagsschlaf brauchte er nicht. In der Krippe war dies für die Erzieherinnen jedoch kein Problem. Sie kommentierten dies ironisch mit “Willi ist eben anders.”

Willi lernte zügig sprechen und verblüffte mit zwei Jahren mit Zahlenkenntnissen. Die Erzieherinnen spielten eines Tages mit Fußballpuppen, die entsprechend nummerierte Trikots anhatten. Willi las die Zahlen vor und forderte die fehlenden Puppen an.

Entsetzt reagierten die Erzieherinnen allerdings, als er mit fast drei Jahren ein 100-tlg. Puzzle zusammensetzte – mit dem Bild nach unten. Das Positive war, daß die Erzieherinnen seine Entwicklung unterstützten. Sie gaben ihm immer wieder “Futter”.

Er begann zu rechnen – nicht mit Fingern, sondern an der Uhr. Er zählte ab der entsprechenden Zahl vorwärts oder rückwärts, je nach Aufgabe.

Dann wechselte Willi in den Kindergarten. Da eine Erzieherin der Gruppe mitwechselte, wurde Willi weiter gefördert. Er “las” Bücher vor, indem er die Seiten auswendig lernte und an der richtigen Stelle umblätterte. Am meisten faszinierten ihn Zahlen und Rechenaufgaben. Sein Spitzname war zu diesem Zeitpunkt “Graf Zahl”.

Von der Sesamstraße lernte er die Buchstaben – allerdings mit fatalen folgen. Da dort nicht der Laut gesprochen wird (M) – sondern der “Name” (EM), zog sich dieser Fehler durch seine ersten Leseversuche. Aus Mama wurde Ema-ema. Da dies keinen Sinn ergab, hörte er damit auf.

Die Kinderpsychologin, die sich unseren 3 1/2-jährigen Willi in der KiTa “spaßenshalber” mal ansah, attestierte ihm zu diesem Zeitpunkt den Entwicklungsstand eines Sechsjährigen.

Den Gedanken an eine Begabung habe ich weit von mir geschoben. Schließlich haben ja alle Eltern kluge Kinder. Mein Mann und ich dachten immer, wir würden alles überbewerten. Sicherlich war Willi etwas weiter; ich selbst konnte den Unterschied zu anderen Kindern nicht beurteilen, da Willi Einzelkind ist.

Zu diesem Zeitpunkt zogen wir in eine andere Stadt. Hier kam er als dreijähriger Knirps in eine Gruppe, die aus drei- bis sechsjährigen Kindern bestand. Schnell orientierte er sich an den älteren Kindern und erreichte binnen 4 Wochen deren Entwicklungsstand. Spielzeug interessierte nur kurz. Technische Sachen wurden bis zur Unkenntlichkeit zerpflückt.

Das Hobby wurden Dinosaurier – aber bitte mit exaktem Namen. Megalosaurus, Apatosaurus, Iguanodon etc. Ich hatte ihm eine CD-ROM für den PC gekauft, welche wie ein Museum durch die einzelnen Zeiten und Arten führte.

Zusätzlich interessierten ihn Dampfeisenbahnen. Von der Baureihe bis zur technischen Besonderheit – alles wurde exessiv “gefressen”.

Berufswunsch war zu diesem Zeitpunkt Politiker – “weil die lügen dürfen und dafür noch bezahlt werden” !

Fatal war die Ansicht der Erieherin in diesem Kindergarten, lesen dürfe er nicht lernen, da er es in der Schule lernen solle. Da zu diesem Zeitpunkt die Meinung Außenstehender für ihn wichtiger war (und noch ist) als die der Eltern, stagnierte seine Leseentwicklung.

Willi paßte sich an, wurde ruhig. Sein Spitzname war Professor. Er wurde zur rechten Hand der Erzieherin, begann Kinder auf ihr Fehlverhalten hinzuweisen und nervte mit Fragen wie “Was ist Zeit? Kann man die Zeit anhalten? Muß man da mit Lichtgeschwindigkeit rückwärts fliegen?”.

Er wollte nun Erfinder werden. Vorschläge wie die Fernbedienung für die Kaffeemaschine (damit die Eltern länger mit ihm im Bett schmusen können); einen Speicher für die Bremshitze beim Pkw, der die Wärme dann später zum Heizen des Innenraumes abgeben könne; eine rotierende Flaschenbürste waren oftmals für uns verblüffend.

Er bastelte nun viel mit technischen Legobausteinen, die für ältere Kinder gedacht waren. Klappte etwas aber nicht auf Anhieb, oder zerbrach das Bauwerk, flippte er aus und warf das Spielzeug in die Ecke.

Er wurde daheim sehr aggressiv, sobald er vom Kindergarten kam. Am Abend kuschelte er exessiv, tapste nachts in unser Bett. Im Kindergarten aber war er das pflegeleichte, ruhige Kind, welches bei den Kindern sehr beliebt war. Es war, als hätte er zwei Gesichter. Die Erzieherin, die ich darauf ansprach, kommentierte dies mit einem: “Seien sie doch froh, das er dieses Verhalten zu Hause zeigt, und nicht in der Öffentlichkeit. Es ist halt normal bei Kindern.”

Dann begann der Schwimmunterricht im Kindergarten. Willi war das erste Kind, das sein Schwimmabzeichen machte. Er schwamm nicht die geforderten 25 m – nach 100 m schaffte es die Schwimmlehrerin, ihn zu überzeugen, es würde doch nun wirklich reichen. Sofort wurde ich bedrängt, meinen fünfjährigen Sohn in die Trainingsgruppe der Siebenjährigen zu stecken. Da ich selbst Leistungsschwimmerin gewesen war und meine Kindheit fast ausschließlich mit Wettkämpfen und Training auf einer Sportschule verbracht hatte, bremste ich den Elan der Trainerin ab.

Ich wollte keinen Leistungsdruck. Jedesmal, wenn ein Sporttrainer (Fußball, Turnen, Leichtathletik) auf uns zukam, blockte ich ab, sobald es um Wettkämpfe ging, zumal die Einschulung kurz bevor stand. Ich war der Ansicht, Willi solle sich erst einmal in der Schule zurechtfinden, dann würden wir weiter sehen.

Bei der Einschulungsuntersuchung durch die Schulärztin kommentierte diese die Untersuchung mit einem “hm, ja, wie soll ich es sagen, bißchen weit der Junge”. Sie brachte vorsichtig das Wort Begabung ins Spiel. Bei ihren Tests sei er mathematisch und sprachlich sehr weit, zu ernst, zu analytisch, denke zu abstrakt, sei zu sportlich. Vielleicht solle man ihn fördern.

Nach zwei Schultagen begann ein täglicher Kampf um den Schulbesuch. Er erfand hundert Gründe, nicht hinzugehen, z.B.: Er habe solche Riesenpickel am Hintern, könne deshalb dort gar nicht sitzen. Alles sei Babykram. Es nerve. Es langweile.

Da mir das Theater zuviel wurde, sprach ich nach einer Woche lange mit der Klassenlehrerin. Ihr war Willi als ruhiges, pflegeleichtes Kind nicht negativ aufgefallen. Er verhalte sich eher überangepaßt. Allerdings seien die Wortwahl und die Sätze, die er formuliere, erschreckend. Sie wolle sich etwas überlegen, ihn mal genau beobachten. Sie bat mich um Zeichnungen, seine Rechenaufgaben, die er so aufmale, ein Beispiel für die Legokonstruktionen etc..

Am nächsten Tag trat die Direktorin auf mich zu. Sie habe den Verdacht, daß Willi überdurchschnittlich weit und damit unterfordert sei. Sie werde ihn mal testen, dann würden wir weiter sehen.

Nach dem Test kam sie auf uns zu und empfahl dringend, ihn probeweise in die zweite Klasse zu versetzen – und zwar sofort. Willi könne bereits einfache Sachverhalte lesen, schreibe in Blockbuchstaben und sei in Mathe auf dem Stand der zweiten, wenn nicht gar dritten Klasse. Bei seiner Auffassungsgabe sei er in der ersten Klasse unterfordert.

Zusammen mit den Lehrerinnen der ersten und zweiten Klasse und der Direktorin besprachen wir das weitere Vorgehen. Die Direktorin empfahl eine Zensurenbefreiung für das erste Halbjahr, um das Kind nicht zu frustrieren und ihm die emotionale Eingewöhnung zu erleichtern.

Sie empfahl mir auch das Gespräch mit Eltern, die an dieser Schule Kinder hatten, die gesprungen waren. Von diesen kam eine sehr positive Resonanz. Sie lobten die Unterstützung durch die Schule. Auch der Hort zog mit.

Die Lehrer haben ihr Versprechen gehalten. Willi geht seit fast drei Wochen in die zweite Klasse. Nach vier Tagen konnte Willi die Schreibschrift. Auch beim Lesen macht er Riesenfortschritte. Mathe hatte er keine Probleme. Zeichnen ist sein Lieblingsfach.

Schwerer war die Eingewöhnung. Zunächst heulte er viel, weil er keinen Anschluß fand. Aber bereits nach einer Woche waren die Schwierigkeiten vorbei. Er hat Freunde gefunden. Er mag es jedoch am liebsten, wenn der Unterricht beginnt und saugt alles wie ein Schwamm auf.

Nun habe ich ein ausgeglichenes Kind. Er ist daheim wie verwandelt.

Durch die Empfehlung einer Hortnerin habe ich eine Lehramtsstudentin gefunden, die mit ihm nachmittags den Stoff aufarbeitet und noch vorhandene Lücken schließt. Er liebt sie über alles, denn nun hat er eine “Lehrerin ganz für sich allein”. Da sie sich für begabte Kinder interessiert, bietet sie ihm viele Anreize.

Ich bin dankbar, daß die Schule sehr aufgeschlossen gegenüber begabteren Kindern ist und sich Willi damit die Chance bietet, seinem Intellekt entsprechend gefördert zu werden.

Für den, den es interessiert, noch die Anmerkung: Wenn ich nicht mit dem Springen einverstanden gewesen wäre, hätte die Lehrerin der ersten Klasse einen Extraplan für den Unterricht ausgearbeitet. Auch das ist an dieser Schule – eine ganz normale Grundschule – üblich.

Der schönste Spruch kam von der Hortnerin:

“Wissbegierde und Begabung sind zarte Pflanzen, die bei richtiger Pflege und Zuwendung zu den schönsten Blumen werden können.”

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